Ein Gedankenspiel: Wie würde das Grundgesetz heute entstehen?
Dieser Beitrag von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann erschien im Behörden Spiegel. Die digitale Ausgabe finden Sie hier.
Ein Gedankenspiel: Stellen wir uns einmal vor, wir wären heute aufgerufen, uns eine Verfassung zu geben. Wie lange würde wohl die Erarbeitung des Textes dauern? Und würde uns heute abermals ein derart großer Wurf gelingen? Ich wage die Prognose: Mit der kurzen Zeit, die die Frauen und Männer des Parlamentarisches Rat unter Vorsitz von Konrad Adenauer damals gebraucht haben, um eine ganze Verfassung zu schreiben, würden wir vermutlich nicht auskommen. Und ich bezweifle auch, dass wir an dieselbe Qualität herankämen. Denn heute neigen wir dazu, alles bis ins kleinste Detail zu regeln. Mikromanagement ist die neue Krankheit einer Politik, die auf jede Eventualität Antworten geben will. Das Ergebnis: Zum Stichtag 1. Januar 2024 gab es 1792 bundesrechtliche Gesetze mit 52.155 Einzelnormen und 2854 bundesrechtliche Verordnungen mit 44.272 Einzelnormen. Damit lassen sich viele Aktenschränke füllen.
Dagegen das Grundgesetz: Wenn Sie ein Exemplar bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellen, bekommen Sie ein schmales Buch von rund 150 Seiten im Hosentaschenformat. Aber der Inhalt hat es in sich. Dieses Buch ist ein juristisches Meisterwerk, das in den letzten 75 Jahren zwar ab und an Änderungen erfahren, sich aber immer als krisenfest und resistent erwiesen hat. Das Grundgesetz ist das Fundament unseres Landes und setzt den Grundstein für unser demokratisches und gesellschaftliches Miteinander. Für ein Wortdokument, das bei seiner Entstehung eigentlich nur als Provisorium gedacht war, eine bemerkenswerte Leistung. Kein Wunder also, dass dieses Werk auch junge Demokratien auf der ganzen Welt zum Vorbild genommen haben. Was kaum jemandem bewusst ist: Unser Grundgesetz ist ein Exportschlager „Made in Germany.“ Und wir sind alle in der Pflicht, diesen zu schützen und behutsam weiterzuentwickeln.
Also alles schön? Leider nicht. Lassen Sie mich mit zwei beunruhigenden Befunden beginnen. Zunächst einmal wissen wir aus Umfragen und erleben es in unserer Arbeit tagtäglich: Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik und das generelle Vertrauen in demokratische Institutionen und Verwaltung hat abgenommen. Zugleich ist offensichtlich: Die Anforderungen an unseren Staat haben zugenommen, ohne dass seine Leistungsfähigkeit im gleichen Maße mitgewachsen wäre. Ein besonders frappierendes Beispiel: Eine Nachfolgelösung für die Köhlbrandbrücke in Hamburg ist seit vielen Jahren in der Planung. Die Brücke wurde im Jahr 1974 nach vierjähriger Bauzeit eröffnet. In etwa 16 Jahren soll die neue Brücke fertig sein. Egal, wohin wir schauen, ob auf Bauanträge, auf Elterngeldanträge oder Anträge für Lehrmaterialien in den Schulen: Alles ist unterschiedlich und kompliziert. Aber vor allem: Alles ist nicht bürgernah gedacht und vor allem nicht digital genug.
Unser Land hat es einmal geschafft, sich in neun Monaten eine Verfassung zu geben – heutzutage dauert es oftmals länger, eine Baugenehmigung zu bekommen oder ein Einzelgesetz zu beschließen. Und ich meine: Genau darin liegt eins unserer Kernprobleme und eine wesentliche Ursache für den beschriebenen Vertrauensverlust in unsere Demokratie. Dem Staat wird heute zu oft nicht mehr zugetraut, mit den großen Herausforderungen unserer Zeit umzugehen – weil es in der Alltagsbeobachtung zu vieler Bürger bereits hakt.
Wohlgemerkt an unserem Grundgesetz liegt es nicht, dass wir uns einengen und selbst ausbremsen. Im Gegenteil, in keiner Zeile dieses großen Textes wird uns vorgeschrieben, dass wir uns im Kleinklein verlieren sollen; oder dass wir als Staat nicht den Dienst am Bürger, den Service für ihn in den Vordergrund stellen dürfen. Das Grundgesetz gab uns nach dem Zweiten Weltkrieg eine stabile, verlässliche Ordnung, auf deren Basis wir politische Lösungen und einen funktionierenden Staat erarbeiten müssen. Die Ausgestaltung liegt bei uns. Schauen wir uns einmal an, welche Veränderungen sich in den vergangenen 10-20 Jahren in so vielen Bereichen unseres Alltags ergeben haben. Für die Art, wie wir konsumieren und kommunizieren, wie wir denken und uns fortbewegen. Alles ist direkter, schneller und oft bequemer geworden. Das weckt verständlicherweise auch Erwartungen, dass staatliche Stellen hier mithalten und mit der Zeit gehen. Kurzum, der Staat muss sich auch als digitaler Dienstleister verstehen. Die Politik hat kein Erkenntnisproblem. Auch wir Politiker müssen einen neuen Ausweis beantragen, eine Wohnung anmelden oder möchten nicht auf dem Weg nach Hause im Stau stehen, weil die Sanierung einer Brücke zu lange dauert. Aber was der Politik oft fehlt, ist der Mut, die Probleme anzugehen – auch auf vielleicht ungewöhnlichen Wegen. Viel zu oft lassen wir uns davon abhalten, tragen Bedenken vor und suchen regelrecht nach Gründen, uns erst gar nicht auf den Weg zu machen. Was wir also brauchen, ist eine neue Mentalität des Machens und den Mut, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Mit Blick auf einen leistungsstarken und attraktiven öffentlichen Dienst heißt das: Mehr Mut zu bundeseinheitlichen Standards! Mehr Mut zu einem flexibleren Laufbahnrecht und stärker leistungsorientierter Bezahlung! Mehr Mut zu interdisziplinären Teams und zur Durchlässigkeit zwischen Verwaltung und Wirtschaft! Und grundsätzlich muss bei der Digitalisierung der Verwaltung viel stärker in Ergebnissen gedacht werden statt in Prozessen. Die digitalen Werkzeuge müssen endlich vernünftig eingesetzt werden.
Mindestens genauso wichtig aber ist, dass der Staat lernt, sich selbst einzuhegen. Denn Bürokratie schafft immer neue Bürokratie. Und genau das lähmt inzwischen das ganze Land. Warum also nicht den Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes mehr Entscheidungsspielräume geben? Was spricht dagegen, ihnen wieder mehr Eigenverantwortung zuzugestehen? Zu oft scheitert das schnelle Entscheiden im öffentlichen Dienst an hierarchischen Strukturen, obwohl der handelnde Mitarbeiter die Lösung schon parat hätte, aber auf das Okay von drei Ebenen über ihm angewiesen ist.
Wir müssen den Männern und Frauen im öffentlichen Dienst aber nicht nur etwas abverlangen, sondern alles geben, was sie brauchen, um ihre Arbeit zu machen und ihren Beitrag zu einem funktionierenden Staat leisten zu können. Dass unser Land auf einem so starken Fundament steht, ist nicht zuletzt auch ihr Verdienst. Über Jahrzehnte hinweg haben sie das, was das Grundgesetz vorgibt, mit konkretem Leben gefüllt. Ohne leistungsfähige und motivierte Angestellte und Beamte kann kein Rechtsstaat dieser Welt funktionieren.
Mein Fazit: Einen neuen Gründergeist, wie er bei der Erarbeitung des Grundgesetzes herrschte, braucht es auch heute wieder. Denn die Herausforderungen sind angesichts zahlreicher Umbrüche und Krisen so groß wie lange nicht mehr. Deutschland braucht einen Mentalitätswandel, um weiterhin stabil, verlässlich und leistungsfähig sein und in einer immer schneller werdenden Zukunft bestehen zu können. Das mag zuweilen anstrengend und unbequem sein, aber unser Land ist es wert.